Muss wirklich jedes Wort übersetzt werden?
Else Gellinek
- November 20, 2015
- 3 min read
- Mit Übersetzer*innen arbeiten
Wie wichtig ist Texttreue?
Autoren hängen oft an jedem Wort ihrer Werke. Und darum schmerzt es, wenn ich in der Übersetzung einige Wörter oder sogar komplette Sätze abändere oder einfach auslasse. Bei näherer Betrachtung werden Sie sehen, dass die nicht übersetzten Stellen nie wichtige Fakten enthalten (außer mir ist ein Fehler unterlaufen). Diese Formulierungen sind auf eine deutsche Leserschaft zugeschnitten und enthalten für eine nicht deutsche Leserschaft keine zwingend notwendigen Informationen oder keinen kommunikativen Mehrwert. Solche Passagen in eine Übersetzung zu übernehmen geht sogar gegen den Sinn einer Übersetzung. Schließlich offenbart sie dem Leser oder der Leserin, dass der vorliegende Text gar nicht für ihn/sie geschrieben wurde und er/sie nur sekundäre(r) Leser(in) ist. Niemand kommt gerne an zweiter Stelle.
Welche Textstellen werden ersetzt oder entfernt?
- Grußformeln oder Höflichkeitsfloskeln, die außerhalb des deutschen Sprachraums ungebräuchlich sind
- Beispiele, die nur Leser aus dem deutschsprachigen Kulturraum verstehen können
- Sprachspiele oder Witze: Manche lassen sich schlecht ins Englische übertragen und manche treffen nicht den Humor eines internationalen Publikums. Witze, die flach fallen, sind der Untergang eines jeden Marketingtextes.
- Hinweise auf Gesetze, technische Normen, akademische oder berufsbildende Abschlüsse: Solche Angaben betrachte ich aus den Augen der nicht deutschen Leser und frage, ob sie in deren Verständnis a) relevant und b) aussagekräftig sind. Ist dies nicht der Fall, dann setze ich den digitalen Tintenkiller an.
- Redundante Formulierungen oder Wiederholungen: Dies ist weniger ein kulturspezifisches Problem als eine Straffung des ursprünglichen Wortlautes.
Ein Beispiel für die kalte Jahreszeit
Viele Unternehmen feilen schon sorgfältig an den Formulierungen der Weihnachts- oder Neujahrsgrüße. Je kürzer die Texte sind, desto mehr muss jedes einzelne Wort zur Gesamtwirkung beitragen. Die weihnachtliche Grußformel darf hierbei nicht fehlen. Diese Grußformeln sind so ritualisiert, dass wir nicht mehr die Bedeutung der einzelnen Wörter wahrnehmen – bis es zur Übersetzung kommt.
Der allseits so beliebte Wunsch nach „besinnlichen Feiertagen“ ist eine häufige Stolperfalle. In jedem Land sieht die Advents- und Weihnachtszeit anders aus. In Deutschland bietet sie eine Möglichkeit zur Besinnung auf höhere Werte und auf die Familie. Wer diesen prägenden Aspekt der deutschen Weihnachten nicht kennt, wird den Wunsch nach „besinnlichen Feiertagen“ nicht verstehen, auch nicht wenn er im schönsten Englisch formuliert ist. Es kann nicht gelingen, „besinnliche Festtage“ wörtlich zu übersetzen. Oft sehe ich tapfere Versuche wie „We wish you relaxing holidays.“ Die einzigen, die das richtig verstehen sind Deutsche, die ein bisschen Englisch beherrschen.
Im englischsprachigen Raum gibt es kein Gegenstück zu den in Deutschland so beliebten besinnlichen Festtagen. Die Menschen feiern anders und setzen darum einen anderen Schwerpunkt bei ihren Festtagsgrüßen. Hier begnügt man sich mit einem „Merry Christmas“ oder der neutraleren Formulierung „Happy Holidays“.
Man merke sich: Es ist besser, Sie lassen zu, dass ein paar Passagen nicht den Weg in die Übersetzung finden, als dass Sie die kulturellen Gepflogenheiten Ihrer nicht-deutschsprachigen Zielgruppe übergehen. Es gilt „when in Rome, do as the Romans do“ (sinngemäß: „andere Länder, andere Sitten“) und das trifft ganz sicherlich für Ihre internationale Weihnachtspost zu.
PS Der Wunsch nach einem „guten Rutsch“ ist genauso eine spezifische deutsche Angelegenheit. Vermeiden Sie bitte alle Behelfsformulierungen, die das englische Verb „slide“ enthalten – außer Sie wollen sich selbst aufs Korn nehmen. Mit einem „Happy New Year“ liegen Sie im Englischen auf der sicheren Seite.